Stadtnatur im Zentrum – die grüne Verkehrsinsel am Molkenmarkt

In der Berliner Innenstadt gibt es nur wenige Flächen, auf denen sich Stadtnatur spontan und frei entwickeln kann. Oft lassen sich solche Flächen aber im Rahmen großer Stadtumbauprojekte oder im Umfeld langjähriger Baustellen entdecken. Ein Beispiel: eine kleine Verkehrsinsel am Molkenmarkt.

Stadtumbau Molkenmarkt

Im historischen Zentrum direkt hinter dem Berliner Rathaus werden derzeit Straßen verlegt. Im Rahmen des Stadtumbaus soll hier der historische Stadtgrundriss wiederhergestellt werden. Das bedeutet an dieser Stelle: Bebauung der vorhandenen Grün- und Freiflächen. Bevor die Bauarbeiten beginnen, suchen Archäologen im Boden nach Überresten des historischen Stadtkerns.

Ausgrabungen am Molkenmarkt
Archäologische Ausgrabungen am Molkenmarkt im Juni (Foto: C. Hajer)

Grüne Verkehrsinsel

Im Südwesten der Ausgrabungsstätte befindet sich eine dreieckige Verkehrsinsel. Sie ist auf der Karte unten zu sehen. Sie ist etwa 30 m lang und an der breitesten Stelle etwa 15 m breit. 2017 stehen hier noch Bäume, die 2018 gefällt werden.

Molkenmarkt 3D
Die Karte zeigt die Situation vor drei Jahren. Kurz darauf wurden die Bäume gefällt und die Fläche beräumt.

 

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Die Karte zeigt die Verkehrsinsel ohne Vegetation

Der Boden besteht aus Sand, der mit Bauschutt vermischt ist. Teile der Fläche sind mit Gehwegplatten belegt. Außerdem gibt es mehrere Haufen mit Häckselgut von gefällten Bäumen. Bis auf die Wurzelaustriebe der abgängigen Bäume war die Verkehrsinsel also bis vor 3 Jahren weitgehend vegetationsfrei. Seitdem wurden Samen verschiedenster Arten durch Wind, Tiere, Passanten, vorbeifahrende Autos oder Lieferwagen auf die Fläche gebracht und konnten sich frei entwickeln.

Wie sieht es dort heute aus?

Welche Pflanzenarten können sich in so kurzer Zeit erfolgreich ansiedeln und wie hat sich die Vegetation der Stadtnatur dort innerhalb von zwei Jahren entwickelt?

Molkenmarkt Stadtnatur berlininfo

Aufwuchs von Zürgelbaum, Feinstrahl, und Margeriten: Blick vom Gehweg in Richtung Nordosten mit Stadthaus (Foto: C. Hajer)

Flora Molkenmarkt Vegetation berlininfo

Blickrichtung Südwesten Nikolaiviertel; verschiedene Langgräser und Rittersporn (Foto: C. Hajer)

Die Kartierung dauerte ca. 6 Stunden, verteilt auf zwei Nachmittage am 21. und 23. Juni 2020.
Für weniger bekannte Arten benutzte ich die Apps „Flora incognita“ des Max-Planck-Instituts für Biochemie in Jena und „Naturblick“ des Naturkundemuseums Berlin. Einige Pflanzen konnten nicht zweifelsfrei bestimmt werden und durften ihr Geheimnis behalten.
Der heutige Zustand umfasst die klassischen blütenreichen Erstbesiedler der Boden- und Krautschicht sowie erste Stauden und junge Bäume als Pioniergehölze.

 

Naturblick App berlininfo

Stadtnatur : Bestimmung mit „Naturblick“ – App vom Museum für Naturkunde (Foto: C. Hajer)

Das Ergebnis: Insgesamt konnten 96 verschiedene Pflanzenarten nachgewiesen werden. Eine beachtliche Artenvielfalt auf dieser kleinen Fläche.

Zur Einordnung: Für Berlin weist die Gesamtartenliste des Landesbeauftragten für Naturschutz in Berlin 1527 etablierte Pflanzensippen aus. Davon sind 304 Neophyten, also Pflanzen, die erst nach 1500 nach Europa kamen. Nach Angaben des Naturschutzbundes NABU Berlin gibt es in Berlin 2.200 Farn- und Blütenpflanzen. Die hohe Anzahl verschiedener Pflanzen auf der kleinen Fläche war überraschend und auf den ersten Blick nicht zu erwarten.

pflanzenliste molkenmarkt berlininfo

Ausschnitt aus der Liste der festgestellten Pflanzen (Foto: C. Hajer)

Der aktuelle Zustand der Vegetation umfasst die klassischen blütenreichen Pioniere, die Erstbesiedler offener Flächen. Dazu gehören beispielsweise verschiedene Kleearten, Nachtkerzen, Natternkopf oder Kompasslattich in der Boden- und Krautschicht. Hinzu kommen erste Stauden und Pioniergehölze wie Traubenkirsche, Götterbaum und Zürgelbaum.

Würden die Pflanzen dort 30 Jahre lang ungestört wachsen, entstünde ein kleiner Stadtwald. In größerem Maßstab ist dies im Naturpark Südgelände oder in den Waldflächen des Parks am Gleisdreieck zu sehen. Früher als Rangierbahnhof genutzt, waren diese Flächen vegetationsfrei. Stadtnatur konnte sich hier während der Mauerzeit über Jahrzehnte ohne menschliche Eingriffe entwickeln.

Ein Berliner Forschungsprojekt der Humboldt Universität zu naturnaher Vegetation auf Verkehrsinseln und Mittelstreifen zeigt auch die positiven Auswirkungen auf die Artenvielfalt der Tierwelt, hier vor allem der Insektenfauna.

Ein angepasstes Pflegekonzept für naturnahes Stadtgrün könnte also einen Teil der Artenvielfalt der Verkehrsinsel erhalten.

Vegetation Molkenmarkt Sukzession Flora

Blühpflanzen auf der Verkehrsinsel am Molkenmarkt . Foto: C. Hajer.

Hohe Biodiversität und Resilienz

Im Vergleich zu gärtnerisch angelegten Flächen oder naturnahen Wiesen und Wäldern weisen solche spontan entstandenen Vegetationsflächen jedoch eine höhere Biodiversität auf. Dies gilt auch im Vergleich zu Flächen im umliegenden Land Brandenburg.
Auch die Widerstandsfähigkeit dieser Pflanzengesellschaften gegenüber Umwelteinflüssen ist deutlich höher. Das ist wichtig für die Folgen des Klimawandels wie Wind, Starkregen, Trockenheit, aber auch Schädlingsbefall.

Der neue Dokumentarfilm „Natura Urbana“ von Mathew Gandy und Sandra Jasper von der Universität Cambridge beschäftigt sich ausführlich mit der historischen Entwicklung der Berliner Stadtbrachen seit dem 2. Weltkrieg.

Nachtrag: Ein Besuch im Dezember

Ruderalflora

Das schmalblättrige Greiskraut (senecio) ist ein Neophyt aus Südafrika. Dezember 2020. Foto: C. Hajer.

Eine erneute Begehung am 8. Dezember 2020, ein halbes Jahr nach der Aufnahme der Sommervegetation, zeigte, dass einige Pflanzen bis in den Winter hinein blühen.
Dazu gehörten die Wiesenmargerite, der Feinstrahl, das Schmalblättrige Greiskraut und der Ährige Ehrenpreis.

Ursache dafür sind die im Jahresdurchschnitt höheren Temperaturen in der Stadt. Aber auch die Folgen der Klimaerwärmung wirken sich auf die Stadtnatur aus. So war 2020 nach Angaben des Deutschen Wetterdienstes DWD für Berlin das trockenste und wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen.

Im Oktober 2021 wird die Fläche endgültig abgeräumt. Archäologen graben nun auch hier nach dem Ursprung von Berlin.

 

Jüdenstraße

Die Fläche ist abgeräumt und Archäologen vor Ort. Dezember 2021

 

 

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